Stell dir vor, dass du die Kante von einem Blatt Plattpapier unter einem Kissen erspüren musst – genau, das geht nicht. Und genauso wenig kannst du oder dein Therapeut eine „ISG“ – Bewegung spüren. Also Vorsicht, wenn dir jemand soetwas erzählt! Das ISG, oder das SIG, ist das Gelenk zwischen dem Darm- und Kreuzbein, einmal rechts, einmal links und überträgt unter anderem die Kraft von deinen unteren Extremitäten auf dein Becken und Rumpf. Die Sacralfuge, also das, was gerne „erfühlt werden will“, befindet sich unter einer dicken Schicht von Haut, Muskeln und Bändern (z.B. Ligg. Sacroiliaca Posteriora). Stell dir vor, du legst ein Steak auf deine Zeitung und willst dann die Buchstaben dahinter erfühlen. Schwierig, oder?
THE PALPATORY ILLUSION / DIE PALPATORISCHE ILLUSION!
Aber du fühlst doch was? Ein Centimeter dicker Knorpel ziert dieses RIESEN Gelenk und dazu kommt die Malleabilität des Kreuzbeines hinzu. Also dieser „eigentlich rigide Körper ist etwas beweglich“. Und dann stell dir vor, dass dieses Gelenk nur einige wenige Grade bewegen kann, 2-10 Grad, oder 0,3 bis 8mm, jenachdem was und wo du liest und das auch noch dreidimensional. Das ist sogut wie NICHTS und das wird verschleiert durch Band, Muskel, Haut, Tonus, Ausgangsstellung des Tests, Tagesform des Patienten und Therapeuten und wahrscheinlich ob der Mond grade im Saturn steht, oder nicht. Und komm, als ob du dreidimenional palpieren kannst!!! Also wahrscheinlich nicht möglich. Das zeigen auch Untersuchungen zum Thema. Dazu gesellt sich soetwas wie eine Seitendifferenz – du kannst rechts und links nicht vergleichen, weil diese eh nicht gleich laufen. Teilweise schauen die Gelenkflächen einige Grade in andere Richtungen. Also wozu ein Rechts-Links-Vergleich bei einem Gelenk was so gar nicht palpierbar ist und was dann auch gar nicht symmetrisch funktioniert?
Oftmals fühlst du das, was du fühlen willst und das was du fühlen willst ist dir oft schon klar bevor du deinen Patienten das erste Mal überhaupt angefasst hast.
Sowas liest man dann in aktuellen Untersuchungen (2017):
“Movement- or palpation-based assessments historically have demonstrated poor reliability and diagnostic value but are still commonly used for the detection of potential sacroiliac pathology.”
(… Bewegungs- und Palpationsbasierte Tests zeigen eine schlechte Reliabilität und wenig diagnostischen Wert, werden aber immer noch benutzt um Pathologien des ISG herauszufinden…)
WIE TESTET MAN EINE „ISG-PROBLEMATIK“?
Untersuchungen zum Thema deuten darauf hin, dass es durch Provokationstest möglich ist eine Pathologie des ISG´s herauszufinden. Aber nicht ein einzelner Test, sondern eine ganze Batterie. Es gibt einige Tests, welche eine gute Reliabilität – Inter- und Intratester – haben. Zum Beispiel der Thight Thrust.
Eine Palpation einer ISG / SIG – Beweglichkeit ist nicht möglich. In diesem Gelenk findet auch kaum Bewegung statt. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 findet sich unter Belastung grade mal 0,2° Rotation / Bewegung in diesem Gelenk. Daher sind Tests wie das „Vorläuferphänomen“ kein valides Messinstrument um da irgendwas zu testen. Was du bei einem solchen Test testst ist ob sich der Patient nach vorne neigen kann, oder nicht. Die intraartikuläre Bauweise dies ISG / SIG lässt irgendwelche „Verschiebungen“ nicht zu. Warum sollte auch eines der stabilsten Gelenke im menschlichen Körper ständig „ausrenken“? Das wäre nicht im Sinne des Erfinders …
ABER: CAVE / VORSICHT!
Allerdings sind die Tests zur (er) Findung einer ISG-Problematik oftmals auch bei Bandscheibenproblematiken positiv. Ist der Schmerz „nicht zentralisierbar“ durch beispielsweise Extension der Wirbelsäule und findet sich keine Schmerzverstärkung und „Steifigkeit“ am Morgen (damit meine ich nicht deine Morgenlatte …), dann könnte es gut möglich sein, dass es sich um eine Problematik des Darm-Kreuzbein-Gelenkes handelt. Allerdings hat ein solcher Patient auch Probleme mit dem gehen – der Einbeinstand wird bei einer ISG-Problematik ungerne eingenommen. Sicherheit hast du aber nur durch die Kombination von Anamnese, guter klinischer Tests und eventuell durch ein, zwei, Probebehandlungen. Einfach ist die Diagnostik in der Orthopädie mitnichten. Neuere Untersuchungen stellen teilweise altbewährte Untersuchungsmethoden in Frage. Der Goldstandard (das Kernspin / MRT) zeigt „pathologische Veränderungen“ auch bei symptomfreien / gesunden Probanden, was bedeutet, dass der Goldstandard, an welchem oft ein klinischer Test gemessen wird, selbst komplett aussagelos ist.
Die „evidenzbasierte“ Physiotherapie ist eine sehr interessante Entwicklung und mit Sicherheit der richtige Weg, sorgt aber meiner Meinung nach für eine gravierende Verwirrung. Ein gutes Beispiel ist das Thema Schmerz. Mitlerweile werden „strukturelle Ursachen“ fast schon ausgeklammert – so liest es sich zumindest sehr oft. Schmerz ist ein multifaktorielles Modell, ja. aber ich Glaube, dass eine akute Verletzung der Start einer Schmerzproblematik ist – im weiteren Verlauf verselbstständigt sich dieser Schmerz allerdings … im Neandertal hatten wir wahrscheinlich keine Zeit für Schmerz und haben uns so bewegt, wie es für uns richtig ist. Also kein Problem!
Interessant auf jeden Fall … ich hab da eine Studie …
QUELLEN:
Clin Biomech (Bristol, Avon). 2017 Aug;47:40-45. doi: 10.1016/j.clinbiomech.2017.05.014. Epub 2017 May 29.
Movement of the sacroiliac joint during the Active Straight Leg Raise test in patients with long-lasting severe sacroiliac joint pain.
Kibsgård TJ1, Röhrl SM2, Røise O3, Sturesson B4, Stuge B5.
J Man Manip Ther. 2008; 16(1): 25–38.
doi: 10.1179/106698108790818639
PMCID: PMC2565072
Three-Dimensional Movements of the Sacroiliac Joint: A Systematic Review of the Literature and Assessment of Clinical Utility
Adam Goode, Eric J Hegedus, Philip Sizer, Jr, Jean-Michel Brismee, Alison Linberg, and Chad E Cook
Man Ther. 2000 May;5(2):89-96.
Clinical tests of the sacroiliac joint.
van der Wurff P1, Meyne W, Hagmeijer RH.
J Man Manip Ther. 2008; 16(3): 142–152.
doi: 10.1179/jmt.2008.16.3.142
PMCID: PMC2582421
Evidence-Based Diagnosis and Treatment of the Painful Sacroiliac Joint
Mark Laslett, FNZCP, PhD, Dip MT, Dip MDT
J Manipulative Physiol Ther. 1987 Aug;10(4):164-71.
Inter- and intra-examiner reliability of palpation for sacroiliac joint dysfunction.
Carmichael JP1.
Man Ther. 2009 Apr;14(2):213-21. doi: 10.1016/j.math.2008.02.004. Epub 2008 Mar 25.
Inter- and intra-examiner reliability of single and composites of selected motion palpation and pain provocation tests for sacroiliac joint.
Arab AM1, Abdollahi I, Joghataei MT, Golafshani Z, Kazemnejad A.
Man Ther. 2000 Feb;5(1):30-6.
Clinical tests of the sacroiliac joint. A systematic methodological review. Part 1: Reliability.
van der Wurff P1, Hagmeijer RH, Meyne W.
Arch Phys Med Rehabil. 2006 Jun;87(6):874; author reply 874-5.
Provocation sacroiliac joint tests have validity in the diagnosis of sacroiliac joint pain.
Laslett M, Aprill CN, McDonald B.
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